Dr. Wiebke von Bernstorff
Laudationes Hildesheimer Literaturwettbewerb 2024
Thema: Über Grenzen“
1. „An deiner Seite“ von Karl Johann Müller
Erst das Ende kehrt zum Bild des Titels zurück. Zuerst aber spricht das
Gedicht von Zärtlichkeit, die sich entfaltet und spürbar wird mit jedem Vers im zärtlichen Blick des Sprechenden auf das Du.
Eine Zärtlichkeit, die im Zwischenraum lebt, die ein Ich und ein Du, ein Du und ein Ich kennt und die Grenzen, die damit einher gehen zelebriert, weil sie das Du und Ich erst zu dem machen, was sie sind: Ich und Du. Diese Zärtlichkeit wächst aus den Alltagshandlungen der Fürsorge, der Sorge und der Liebe, aus der sorgfältigen Aufbewahrung, der behutsamen Berührung. Was genau „unsere Zärtlichkeit“ ist, die da mit Sorge hingelegt wird auf den
Stuhl und eingepackt ist in ein Geschenkpapier, das erfahren wir nicht. Aber wir spüren sie aus den Versen heraus. Der Vergleich, der scheinbar anhebt, um sie zu erklären, malt stattdessen Bilder, in denen Kindertage anklingen: ein Malbuch ohne Farben, ausgelaufene Stifte, versprochene aber nicht verschenkte Bonbons. Die Kindertage (die eigenen Kindertage oder die Tage mit den eigenen Kindern?) sind da, aber farblos und umrisshaft und
zugleich wie ein Versprechen auf Farben, Bilder und Süßes und doch verharzt wie die „Knospen an Zweigen alter Bäume“. Aus dem Vergleich mit den Zweigen alter Bäume entspringt das Bildfeld für das Jetzt von Ich und Du: altgewordene Zweige (eines Baumes?) mit verharzten, verheilten
Kerben, die jemand einmal ins frische, geschmeidige Holz schlug. Eine Erinnerung an die Zartheit dünner Haut, die sich aneinanderlegte, knüpft die Verbindung zum Jetzt: Harz rinnt durch dein Haar. Das Ich schaut das Du und erkennt die Wahrheiten eines gemeinsamen Lebens, die Wunden, die Verheilungen, die Versprechen (immer noch) sowie die Erfahrung
geteilter und nicht teilbarer Erinnerungen und, das ist das Entscheidende: Und bleibt: zart, lebendig und da.
Kann es ein tieferes Versprechen geben?
DA WAR DOCH NOCH
Prosa trifft Lyrik
Ein Verweilen. Ein Hinsehen. Ein Hindenken. Ein Aufnehmen und Weitergehen, vielleicht eine kurze Abzweigung zum Ausprobieren, weil ein neuer Gedanke das fordert. Ein Nachsehen und Nachgeben, Nachspüren, weil das Gesehene, Gedachte berührt und bewegt. Sich bewegen, weil Stillstand keine Auswege bietet. Ein Öffnen von Türen und Fenstern, sich wehren gegen das Verschließen. Eine Weitsicht, ohne die Nähe aus den Augen zu verlieren. Ein Fingerzeig, kein Finger-Zeigen. Ein Schauen, Spüren und Schreiben, weil da war doch noch…
Prosa und Lyrik treffen aufeinander. Sie begegnen sich in der Poesie, der in zweierlei Hinsicht Ausdruck verliehen wird. Aus der Sicht des Erzählers, der ganz persönliche Erfahrungen verwortet und aus der Absicht, diese Erfahrungen zu vertiefen, sodass sie sich in Metaphern, in Verszeilen wiederfinden.
Die Texte erzählen von Menschen, die in einer außergewöhnlichen Lebenssituation stecken, in denen es schwer ist, sich selbst eine Stimme zu geben, von Menschen, die Sehnsucht nach Nähe haben, von Irrwegen und Auswegen, von Optimismus und Hoffnung. So berichten die Geschichten und Gedichte über das Vergehen der Zeit, das Miteinander-Reden, die Suche nach Austausch und Begegnungen, das Abseitsstehen, über erlittene Verluste und über das, was Rück- und Zusammenhalt gibt.
Und da war doch noch die Utopie und der Glaube, dass das Denken immer frei sein wird:
Ich werde mir den Wind auf den Rücken binden und mich von ihm an Ufer treiben lassen, an denen noch keines eurer Worte je gestrandet ist. Ich werde mit nichts ankommen, werde von den Früchten der wilden Wälder leben und mich von den Tieren jagen lassen, die mich nicht kennen, werde mich mit ihnen anfreunden, werde Ideen in die harten Böden pflanzen und sobald diese gewachsen und gereift sind, werde ich den Wind von meinem Rücken nehmen und mit ihm die Samen meiner Setzlinge übers Meer an neue Strände wehen lassen.
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